Strobel: „Wir müssen manchmal auch anders denken"
In den kommenden Wochen präsentiert der Deutsche Handballbund (DHB) seinen künftigen Elitekader - mit hochtalentierten Spielerinnen und Spielern zwischen 16 und 20 Jahren. Der erste Elitekader war überaus erfolgreich, stellte 2016 gleich sechs Männer-Europameister. Damals wie heute in verantwortlicher Funktion für diesen Talentpool ist Wolfgang Sommerfeld. Der Bayer gibt aber nun sukzessive den Staffelstab weiter an einen Mann, der 2016 ebenfalls zu den Europameistern und den Olympiadritten zählte: Martin Strobel (35). Der langjährige Spielmacher der Nationalmannschaft sowie des TBV Lemgo und seines Heimatvereins HBW Balingen-Weilstetten ist bereits Elitementor und soll ab kommendem Jahr Chefmentor werden.
Im großen Interview mit dhb.de sprechen Sommerfeld und Strobel über die Bedeutung des Elitekaders, die besonderen Aufgaben der Mentoren - und wie wichtig es ist, auch einmal über den Tellerrand zu schauen.
Herr Sommerfeld, Sie gelten als „Vater des Elitekaders“ - was war seinerzeit Ihr Antrieb?
Wolfgang Sommerfeld: Die Idee, die hinter der Gründung des Elitekaders stand, dass wir im deutschen Handball immer sehr erfolgreiche Nachwuchsjahrgänge hatten, mit vielen Medaillen bei Titelkämpfen und konstant ein, zwei Spielern in den Allstar-Teams der jeweiligen Turniere. Aber danach haben uns andere Länder überholt, weil die Junioren hierzulande zu wenig Einsatzzeiten bekamen und individuell im Spiel und noch viel mehr im Training nicht so gefördert wurden wie in anderen Nationen. Die jungen Spieler saßen auf der Bank. Dann mit 24, 25 Jahren wurden sie vielleicht A-Nationalspieler, viel später als in anderen Ländern - und wurden trotzdem noch als Talente gefeiert. Da haben wir im Deutschen Handballbund gesagt: Wir müssen etwas tun, wir müssen diese Talente intensiver begleiten und müssen am gesamten Ausbildungssystem arbeiten.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung seit dem ersten Elitekader im Jahr 2013?
Wolfgang Sommerfeld: Es gab immer schon eine Kooperation von DHB, Leistungszentren und Bundesligisten, aber seit der Gründung des Elitekaders hat sich vieles verbessert. Vor allem die individuellen Trainingszeiten für die jungen Spieler wurden in den Vereinen und den Nachwuchsnationalmannschaften deutlich erhöht. Der Erfolg hat uns Recht gegeben, speziell, wenn man sich die Europameistermannschaft von 2016 anschaut, da waren sechs Spieler beteiligt, die vorher im Elitekader waren, wie Julius Kühn, Paul Drux, Fabian Wiede oder Jannik Kohlbacher.
Wie ging es nach 2016 weiter?
Wolfgang Sommerfeld: Axel Kromer und Jochen Beppler, die damaligen Nachwuchstrainer im DHB, haben mit mir das Konzept weiterentwickelt, es kamen auch weibliche Talente dazu. Alle Trainer des DHB zogen an einem Strang, aber das Thema Elitekader geriet etwas in den Hintergrund, da es keinen Mentor mehr gab, der dieses Projekt intensiv begleiten konnte. Nun mit Martin Strobel als neuem Elitementor geben wir wieder Vollgas. Martin, den ich selbst schon in der Junioren-Nationalmannschaft trainiert hatte, bringt neue Ideen ein - und er kennt die gesamte Arbeit schon sehr gut, denn er hospitiert schon einige Zeit bei uns.
War es nach Ihrem Karriereende geplant oder eher Zufall, dass Sie nun beim DHB im Bereich Eliteförderung eingestiegen sind?
Martin Strobel: Natürlich habe ich mir schon während meiner Karriere Gedanken über meine berufliche Zukunft gemacht. Dass ich diesen Posten übernehme, ist trotzdem mehr als ein Zufall, denn das ist genau mein Thema. Ich will vor allem die Persönlichkeit der Spielerinnen und Spieler weiterentwickeln. Die Unterstützung von Talenten liegt mir sehr am Herzen - wie man trainiert, wie man als Person reift, aber auch, wie man eine duale Karriere plant.
Wie war Ihr Start in das Projekt?
Martin Strobel: Bereits als ich noch Nationalspieler war, habe ich mich mit Axel Kromer auch immer über den Nachwuchs ausgetauscht. Als mein Karriereende dann näher rückte, entstand die Idee, dass ich ins Elitekaderprojekt integriert werde. Erst als Hospitant, dann immer mehr und bald als Mentor. Wolfgang nahm mich mit zu den Spieler*innen , den Vereinen, auch den Nationalmannschaften. Das ist eine tolle Aufgabe und eine anspruchsvolle Sache - denn da sitzen viele unterschiedliche Parteien an einem Tisch.
Wie sieht für Sie die Jobbeschreibung des Mentors aus?
Martin Strobel: Es geht darum, die Spieler individuell, aber auch als Teamplayer zu entwickeln. Es geht auch darum zu schauen, ob eine Spielerin oder ein Spieler mal zwei, drei Trainingseinheiten aussetzt, wenn in der Schule oder Ausbildung eine wichtige Klausur ansteht, und es geht um die Karriereplanung. Ich habe in den anderthalb Jahren viel von Wolfgang mitgenommen, parallel zu meiner B-Trainer-Ausbildung. Durch den Posten stehe ich auch im direkten Austausch mit den Vereinen und bekomme hier unterschiedliche Einblicke.
Wie kamen Sie und der DHB auf Martin Strobel als neuer Mentor?
Wolfgang Sommerfeld: Wir haben geschaut, welche Aufgaben im Mentorenpropramm anstehen und wer diese Aufgaben auch erfüllen kann. Bei dieser Suche wurde Axel Kromer und mir klar, dass Martin die absolute Idealbesetzung für diesen Posten ist, er ist von seiner Erfahrung, seiner Ausbildung und seinen Vorstellungen prädestiniert für diesen Job - er verkörpert zudem die Ziele, die wir auch haben. Wir haben die richtige Wahl mit Martin getroffen, das kann man jetzt schon sagen. Obwohl ich diesen Job schon einige Jahre mache, habe ich noch vieles von Martin lernen können, und er umgekehrt von uns. Wir haben eine tolle Basis auch auf persönlicher Ebene - und es gibt viele Synergieeffekte. Und mittelfristig - zum 1. Januar 2022 - soll Martin eben auch der Chefmentor für den Elitekader werden.
Haben Sie beide auch Mitspracherechte bei der Zusammenstellung des Elitekaders?
Wolfgang Sommerfeld: Der Kader wird de facto von Axel Kromer, Jochen Beppler und den DHB-Nachwuchstrainern festgelegt, wir sind dann die Mentoren, besuchen die Klubs, die Lehrgänge der Nationalmannschaften und geben natürlich auch unsere Einschätzung in Richtung DHB ab. Schließlich beobachten wir die Spieler ja auch aus ganz anderen Blickwinkeln: Wie ist das Standing im Verein, wie verhält er oder sie sich im Nationalteam, wie werden auch die individuellen Trainingspläne umgesetzt?
Martin Strobel: Und dabei sind wir auch externe Beobachter , wir wollen alle - DHB, Vereine, Mentoren - das Beste für den Spieler und die Spielerin herausholen. Vereine und DHB sollen dem Spieler in dessen individuellen Entwicklung zuarbeiten.
Wie weit geht Ihre Karriereplanung? Betrifft das auch Transfers?
Wolfgang Sommerfeld: Wir sind natürlich auch beratend bei geplanten Vereinswechseln zur Stelle, den Transfer macht der Spieler aber selbst. Wir haben vier Parameter, nach denen wir die künftigen Vereine - meist Erstligaklubs - unserer Eliterkaderspieler*innen analysieren, und wir kennen die meisten Klubs sehr gut, um das auch beurteilen zu können. Wie ist die Philosophie des Vereins? Wie sieht es in dem Verein auf der Position des Talents aus? Wie stark ist der Trainer darin, junge Spieler zu entwickeln und sie individuell nach vorne zu bringen? Und wie viel Zeit für individuelles Training gibt es im Verein?
Martin Strobel: Wir informieren und beraten dabei aber nur, wir sind absolut unabhängig, was die Transfer betrifft. Bei einem Punkt schauen die Mentoren allerdings sehr genau hin, und das ist die Vertragsdauer. Das sollten zum Start keine Vier- oder Fünf-Jahres-Verträge sein, aus denen das Talent dann vielleicht nicht mehr herauskommt, wenn es mal nicht läuft.
Daneben geht es in Ihrer Rolle sehr stark um Schule und Beruf …
Martin Strobel: Das Thema duale Karriere ist ein sehr wichtiger Punkt unserer Arbeit. Welche Schule, welche Uni, welcher Ausbildungsbetrieb sind die richtigen? Oder kommt die Sportförderkompanie der Bundeswehr in Betracht, wo ja seit einigen Jahren auch Handballerinnen aufgenommen wurden? Die Bundeswehr ist da eine Riesensache für unsere Talente. Wir stehen aber auch vorher in direktem Austausch zum Beispiel mit den Lehrern, haben immer einen Überblick über die Schulnoten.
Und das dann angebunden an die sportliche Entwicklung …
Wolfgang Sommerfeld: Genau, parallel ist natürlich der kurze Draht zu allen DHB-Trainern wichtig, egal ob Gino Smits und Erik Wudtke in der Jugend oder André Fuhr und Martin Heuberger bei Junioren und Juniorinnen, gleiches gilt für die A-Trainer Alfred Gislason und Henk Groener. Da geht es auch um die Positionen, für die wir in den A-Teams perspektivisch den größten Bedarf haben und wir daher auch die gesamte Nachwuchsarbeit forcieren müssen.
Martin Strobel: Wir schauen uns natürlich die Kaderstruktur in den A-Teams an und wollen deren Bedarf langfristig decken. Es geht uns darum, die Talente erst einmal abzuklopfen, ob sie bereit sind für Leistungssport und sie dann an die A-Mannschaften heranzuführen, und bei deren Ausbildung dann frühzeitig die A-Trainer miteinbinden. Die zwei Jahre des Übergangs von den Junioren in den Seniorenbereich sind entscheidend für die gesamte weitere Karriere, um zu sehen, wohin die Reise geht. Und je besser alle Beteiligten auf diesen Übergang vorbereitet sind, desto einfacher und effektiver geht das vonstatten.
Wolfgang Sommerfeld: Was Martin vorher erwähnt hat, ist sehr wichtig. Die sportliche Entwicklung muss mit der Persönlichkeitsentwicklung Hand in Hand gehen, sonst kann der Schuss auch nach hinten losgehen, wenn den Spielerinnen oder Spielern ihr Talent zu Kopfe steigt. Und um möglichst viele Talente im Blickfeld zu haben, gibt es neben den eigentlichen 16 Elitekaderspielerinnen- und Spielern auch den Status ‚unter Beobachtung‘, bei dem die Spieler*innen intensiv in ihrer Entwicklung beobachtet werden müssen.
Heißt das, alle Elitekader-Spielerinnen und Spieler müssen so früh wie möglich in die 1. Bundesligen?
Wolfgang Sommerfeld: Für Elitekaderspieler sollte das Ziel immer die 1. Liga sein, in der 3. Liga können sie sich individuell nicht so entwickeln, speziell, was das Training betrifft. Wenn ich auf die Mannschaft schaue, die im August U19-Europameister wurde, die würden alle in Erstligakader passen - zu Trainern, die sich Nachwuchsentwicklung auf die Fahnen geschrieben haben. Dort können sie teilweise sogar schon so weit gehen, dass sie auch in gewissen Situationen Verantwortung übernehmen können.
Martin Strobel: Man muss eben auch immer vor Augen haben, dass die HBL ein Geschäft ist, da geht es um Erfolg und Geld. . Dennoch sieht man beim Blick über die Grenzen und in andere Profiligen, dass dort junge Spieler oft viel früher Verantwortung übernehmen, viel früher zum Beispiel in der Champions League eingesetzt werden und dann auch viel früher A-Nationalspieler werden und sogar bei WM oder EM schon tragende Rollen spielen. Das wollen wir mit allen Bundesligaklubs thematisieren, wobei wir auch wissen, dass es in Deutschland sehr schwer für einen jungen Spieler ist, gleich in der Champions League zu spielen, da ist der Sprung schon sehr groß.
Wolfgang Sommerfeld: Aber es gibt eben auch viele Vereine wie Berlin, Balingen oder den Bergischen HC, wo der Weg für Talente in die HBL sehr kurz ist und es sehr schnell geht. Dort werden immer wieder Talente zu tollen Spielern entwickelt, die dann mit 24 oder 25 Jahren auch für die Champions-League-Teilnehmer interessant werden. Dort gehört es zur Philosophie des Vereins und des Trainers, viel Zeit in die individuelle Entwicklung zu investieren. Für uns ist am wichtigsten, dass die Vereine halten, was sie den jungen Spielern versprechen.
Was möchten Sie in Zukunft ändern, Herr Strobel?
Martin Strobel: Wir müssen manchmal auch anders denken, als wir bisher immer gedacht haben. Wir müssen schauen, wie es andere Länder, andere Sportarten oder auch die Wirtschaft in Sachen Talentförderung machen. Da müssen wir uns verstärkt austauschen, und müssen uns auch wissenschaftlich mit dem Thema befassen und vernetzen. Denn eines ist klar: Es wird in jeder Karriere Schwächephasen und Tiefs geben, mal ein Vereinswechsel, mal ein Trainerwechsel, mal sportlicher Misserfolg oder Verletzungen Da müssen wir die Talente drauf vorbereiten, und um das optimal zu lösen, müssen wir auch mal über den Tellerrand schauen.
(BP)