In diesem Sommer vor genau 50 Jahren fanden die XX. Olympischen Spiele in München statt: Unsere Sportart Handball kehrte 1972 auf die olympische Weltbühne zurück und feierte zugleich eine Premiere – das klingt paradox: Wie das doch richtig ist und passt, wollen wir in einer dreiteiligen Serie beleuchten. Wir rufen damit ein Ereignis in Erinnerung, von dem hüben wie drüben wichtige Impulse für unsere Sport ausgingen, ohne die der Handball in Deutschland, aber auch international nicht das geworden wäre, was er heute ist. Die drei Teile widmen sich insbesondere diesen drei Themen:
- Von 1936 bis 1972: Der lange Weg des Handballs nach München (Teil I)
- Über das „bescheidene“ Abschneiden zweier deutscher Teams (Teil II)
- Olympiasieger Jugoslawien läutet die „Zeitenwende“ ein (Teil III)
Die Serie hat der Sportwissenschaftler und Handball-Experte Prof. Dr. Detlef Kuhlmann (Leibniz Universität Hannover) exklusiv für den DHB verfasst. Die drei Teile erscheinen in loser Folge im olympischen Sommer genau 50 Jahre nach München 1972.
Olympiasieger Jugoslawien läutet die „Zeitenwende“ ein
Olympischen Glanz brachte jedoch damals ein ganz anderes Handballteam auf das Parkett der Münchener Olympiahalle. Damit hatten wohl die wenigsten Experten damals gerechnet: Ein gewisser Vlado Stenzel (geb. 1934), der wenige Jahre später DHB-Bundestrainer werden sollte und mit dem von ihm geformten Team 1978 in Dänemark überraschend Weltmeister wurde, schrieb 1972 als erfolgreicher Trainer von Jugoslawien olympische Geschichte: Seine Mannschaft wurde (erster) Olympiasieger im Hallenhandball. Seine Mannschaft hatte das Handballspiel in der Halle neu erfunden – spätestens beim 21:16-Finalsieg gegen die Tschechoslowakei lösten zum Beispiel die überragenden jugoslawischen Spieler wie der Rückraumlinke Milan Lazarevic, der Linkshänder Zdravko Miljak auf Rückraum rechts und Torhüter Abas Arslanagic eine Begeisterungswelle aus. Sie sollte speziell hierzulande dadurch nachwirkten, weil eben diese drei Spieler wenige Jahre später beim aufstrebenden Bundesligisten TuS Nettelstedt (heute TuS-N-Lübbecke) unter Vertrag genommen wurden. Weitere Spieler aus dem Stenzel-Team landeten bei anderen Bundesligisten (zum Beispiel Hrvoje Horvat von ORK Partizan Bjelovar 1979 beim TSV Milbertshofen und ein Jahr später beim MTV Schwabing).
Vergleicht man die Spiele von München mit dem Handball von heute, dann fällt mit Blick auf die Endergebnisse sofort auf, dass damals sehr viel langsamer gespielt wurde. Lassen wir „alte“ Zahlen sprechen: In den insgesamt 44 Spielen von München 72 warfen in nur vier Spielen beide Mannschaften jeweils mehr als 20 Tore. Da fallen heute pro Halbzeit sogar mehr Treffer… Die torreichste Begegnung war das Platzierungsspiel Dänemark gegen Tunesien (29:21). Die jugoslawische Mannschaft – der neue Stern am Handballhimmel – beeindruckte jedoch durch ihre hohe Athletik, mit ihrer technisch-taktischen Dynamik, ungewohnter Flexibilität und nie dagewesener Perfektion in Angriff und Abwehr. Das Team von Vlado Stenzel erzielte in fünf seiner sieben Spiele mehr als 20 Tore – die meisten übrigens gegen die USA (25:15) und gegen die DHB-Auswahl (24:15). Weniger als 20 Tore fielen in den beiden Partien Polen gegen Dänemark und UdSSR gegen die DDR: Beide Spiele (über 60 Minuten!) gingen 11:8 aus.
Kurze Zwischenfrage: Lagen die niedrigen Trefferquoten vielleicht am ungewöhnlichen Spielball? Mit Sicherheit nicht… aber ein führender deutscher Sportartikelhersteller hatte eigens offizielle Handbälle für die Olympischen Spiele produziert. Die Markennamen eignen sich immer noch gut für die Eine-Millionen-Quizfrage bei Günther Jauch („Wer wird Millionär?“). Die richtige Antwort lautet nämlich: „Jet“ und „Bang“, so hießen die beiden Modelle von adidas.
Für den DHB bzw. den westdeutschen Handball war das Abschneiden bei den Olympischen Spielen im eigenen Land ein „Debakel“, wie es der bekannte Handballhistoriker Erik Eggers einmal formuliert hat. Es blieben viele Fragen im Raum: Waren die Erwartungen zu hoch gewesen? War die Mannschaft zu alt? Waren nicht die besten Spieler nominiert worden? Tatsächlich hatte es im Vorfeld zuerst interne und dann öffentliche Auseinandersetzungen um den Kader gegeben, nachdem sich Willi Daume für die Rückkehr von „Weltstar“ Herbert Lübking in die Nationalmannschaft erfolgreich stark gemacht hatte. Der war nämlich 1970 vom Bundesligisten Grün-Weiß Dankersen zum benachbarten Kreisligisten TuS Nettelstedt gewechselt, um sich beim dortigen Sponsor eine neue berufliche Perspektive aufzubauen und dadurch aus der Nationalmannschaft (vorübergehend) ausgeschieden.
Das Jahr 1972 lässt sich handballhistorisch heute auch als eine „Zeitenwende“ resümieren: Das bis dahin bei uns „gepflegte“ Feldhandballspiel stand endgültig im „Abseits“. Für das Jahr 1972 hatte der DHB die Austragung einer Deutschen Meisterschaft wegen Olympia ohnehin vorzeitig abgesagt; nur noch drei weitere Deutsche Meister sollten bis 1975 gekürt werden, der letzte Titel ging an die TSG Haßloch. In der DDR ist seit 1967 der SC Magdeburg „ewiger“ Meister.
Die Olympischen Spiele 1972 haben dem Handballspiel in beiden Teilen Deutschlands aber so oder so zu weiterer Popularität verholfen, die in der Bundesrepublik allein dadurch existenziell und im wahrsten Sinne des Wortes zementiert wurde, weil in dieser Zeit überall im Land die sogenannten Dreifach-Sporthallen entstanden, die hauptsächlich für den Schulsport gebaut wurden, aber gleichsam über die Originalmaße des Hallenhandballspiels mit markierten Spielfeldlinien und fest installierten Toren verfügten: Willkommen in neuen Hallen beim neuen Hallenhandball!
Was in den 1950er und 1960er Jahren so flächendeckend noch nicht der Fall war, entpuppte sich im zeitlichen Umfeld der Spiele von München 1972 als Glücksfall und architektonisches Geschenk zugleich: Das Handballspiel konnte „kostenneutral“ von draußen in die die neuen Sporthallen umziehen und erhielt allein dadurch Aufschwung und Sichtbarkeit, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, die für sich das neue Hallenspiel entdeckten. Viele andere Inspirationen kamen hinzu – sei es durch die Fernsehübertragungen der Spiele von München selbst oder zum Beispiel die legendären Europapokalspiele des VfL Gummersbach mit über 10.000 Zuschauern in der Dortmunder Westfalenhalle, die damals auch live im Fernsehen übertragen wurden.
Anfang der 1970er Jahre setzte eine zunehmende Professionalisierung unserer Sportart ein. Diese lässt sich nicht nur daran festmachen, dass es fortan für Spitzenspieler im DHB immer „profitabler“ wurde, dann und wann den (Heimat-) Verein zu wechseln. Professionalisierung zeigte sich damals auch auf ganz anderen Gebieten wie der Trainer-Ausbildung mit dem dreifach gestuften Lizenzwesen (A-, B- und C-Trainer), dem vermehrten Aufkommen von Handball-Literatur etc. etc. Die „Technische Kommission“ des DHB mit Werner Vick an der Spitze (ferner Heinz Busch, Gerd Fischer, Raimund Koch) hatte 1972 und 1976 selbst zwei Bände zur die „Schulung des Hallenhandballs“ als Übungssammlung für die Arbeit in Schule und Verein vorgelegt, während in der DDR ab Mitte der 1960er Jahre „Handball“ von Ex-Feldhandball-Weltmeister Hans-Gert Stein (1929-1998) aus Leipzig und Edgar Federhoff in mehreren Auflagen erschien und als „Handball-Bibel“ galt, die auch im Westen „handballmissionarische“ Verbreitung fand. Und für den Schulsport gilt gleiches für das DDR-Buch „Schüler spielen Handball“ (in späterer Nachauflage „Handball in der Schule“) von Theo Endert (96, aus Potsdam) und Gerd Langhoff (91, aus Rostock) und, während in der Bundesrepublik unter anderem die Schriften zum Handball in der Schule des Berliner Sportdidaktik-Professor und späteren Bundestrainer Horst Käsler (1926-1987) viel rezipiert wurden.
Ein vorsichtiges Fazit: Die weltweite Handballfamilie darf heute ein wenig stolz zurückblicken auf die vergangenen fünf Jahrzehnte seit München 72, was die Entwicklung des Handballs hierzulande, aber eben auch international angeht. Anlässlich des runden Geburtstages der Spiele von München dürfen wir uns sogar darüber freuen, dass der Wechsel vom Feld in die Halle so erfolgreich gelungen ist: Dem Handball wurde in der Halle eine neue Existenz beschert, nein: geschenkt. Doch diese Existenz gilt es nun fortan, immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen und „zeitgemäß“ weiter zu entwickeln … denn: Tradition braucht Zukunft … und die liegt beim Handball natürlich „nur“ in unseren Händen!
Prof. Dr. Detlef Kuhlmann