Handballer mit Torgefahr und Spielwitz
Weltklasse-Linkshänder Wolfgang Böhme vollendet 75. Lebensjahr
Wolfgang Böhme, 192-maliger Nationalspieler für die Auswahl des Deutschen Handballverbandes (DHV) der DDR, vollendet am Dienstag, dem 17. Dezember 2024, an seinem Wohnort in Berlin das 75. Lebensjahr. Der aktionsschnelle Linkshänder galt in den 1970er Jahren als einer der besten Handballer der Welt, der sowohl auf Rechtsaußen als auch aus dem rechten Rückraum mit seiner Torgefährlichkeit und seinem Spielwitz zu überzeugen wusste. Die internationale Handball-Karriere des Wolfgang Böhme wurde jedoch 1980 kurz vor dem Höhepunkt bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau abrupt politisch gestoppt. Dazu später und jetzt erstmal der Reihe nach:
Wolfgang Böhme wurde kurz nach seinem Zwillingsbruder Matthias in Wolfen (Bitterfeld in Sachsen-Anhalt) geboren und wuchs im Ostseebad Heringsdorf auf der Insel Usedom auf. Seine erste sportliche Heimat war das Turnen an der Kinder- und Jugendsportschule Rostock, bevor er als Handballer über die BSG Einheit Heringsdorf 1968 zum SC Empor Rostock wechselte.
Sein Debut in der DDR-Nationalmannschaft gab Böhme 1970. Bei den Olympischen Spielen 1972 in München gehörte er (unter anderem zusammen mit Klaus Langhoff, Rainer Ganschow und Harry Zörnack) zum Aufgebot des DHV, das Platz vier belegte nach der 16:19-Niederlage gegen Rumänien. Bei der Weltmeisterschaft 1974 in der DDR unterlag sein Team (hier unter anderem mit Torwart Wieland Schmidt, Peter Rost und Dietmar Schmidt) im Finale in Ost-Berlin wiederum Rumänien knapp mit 12:14. Bei der Weltmeisterschaft vier Jahre später in Dänemark sprang für Kapitän Böhme Rang drei heraus nach dem Gewinn des kleinen Finales mit 19:15 gegen Gastgeber Dänemark in Kopenhagen (hier unter anderem mit Hartmut Krüger, Frank-Michael Wahl und Ingolf Wiegert).
Apropos Kopenhagen: Bestimmt schon tausendmal erzählt ist in Handballkreisen die Geschichte über die berühmte Bierdosen-Nacht im Mannschaftshotel von Kopenhagen vor dem Finale, das die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) mit Trainer Vlado Stenzel (90) sensationell gegen die übermächtige Sowjetunion mit 20:19 (11:11) gewann. In jener Nacht schlich Wolfgang Böhme in das Zimmer von Heiner Brand (72) und Kurt Klühspies (72), um mit Hilfe der vorher geleerten Bierdosen die Spielzüge der Sowjetunion zu vertiefen: „Wolfgang hat uns damit zum Weltmeistertitel verholfen“, schwärmt Kurt Klühspies seitdem von dieser Bierdosen-Nacht: „Heute gratuliere ich Wolfgang sehr herzlich zu seinem 75. Geburtstag, wünsche ihm alles Gute für die Zukunft und bedanke mich für unsere langjährige Freundschaft, die wir seit einiger Zeit auch im Club 100 des DHB pflegen, wo alle mit mehr als hundert Länderspieleinsätzen aus Ost und West zusammenkommen“, lautet die persönliche Glückwunschadresse des Großwallstädters Kurt Klühspies. Beide Linkshänder standen sich auch als Kapitäne mit ihren Vereinsmannschaften mehrfach gegenüber, zuerst freundschaftlich im offiziellen deutsch-deutschen Sportverkehr und dann 1979 in zwei Finalspielen um den Europapokal der Landesmeister, wo der TV Großwallstadt am Ende mit 30:28 (14:10 und 16:18 in Hin- und Rückspiel) gegen den SC Empor Rostock mit Wolfgang Böhme siegreich blieb.
Insgesamt 538 Tore warf Böhme in seinen knapp 200 Spielen im blauen DDR-Nationaltrikot. Für ihn war der Ostseepokal im Januar 1980 die letzte große internationale Bühne – damals noch unwissend und in der Folge unfreiwillig – denn: Drei Monate vor seinem erwartbar nächsten sportlichen Höhepunkt bei den Olympischen Spielen in Moskau wird Böhme aus politischen Gründen „ausdelegiert“, wie es im DDR-Jargon damals hieß. Die verschleierte und für Böhme erschütternde Zeitungsmeldung lautete wörtlich so: „Sportfreund W. Böhme (SC Empor Rostock) wurde wegen grober Disziplinarvergehen vom Leistungsauftrag entbunden.“
Böhmes Karriere ist zerbrochen. Böhme wird in der DDR zur Unperson erklärt. Böhmes Name wird gelöscht. In Protokollen der Staatssicherheit ist später unter anderem von unerlaubten Westkontakten Böhmes zu lesen. Man befürchtete, Böhme würde sich in den Westen absetzen und übersah völlig, dass mit dem politisch herbeigeführten Karriereende keine Gewinner, sondern gleich zwei Verlierer produziert wurden … das politische Regime der DDR sollte sich als menschenverachtendes System entlarven. Die Stasiakte über Wolfgang Böhme umfasst 500 Seiten; das lesenswerte Buch des Handballhistorikers Erik Eggers mit dem Titel „Böhme. Eine deutsch-deutsche Handballgeschichte“ dagegen nur 256.
Wie aussichtlos und verzweifelt die Lebenssituation von Wolfgang Böhme seitdem in der DDR war, belegt sein Entschluss, die politisch-geografische Seite und damit auch die sportlichen Farben zu wechseln: Im Juli 1989 wird seinem Ausreiseantrag endlich stattgegeben. Böhme verlässt zusammen mit seiner Frau über den „Tränenpalast“ am Berliner Bahnhof Friedrichstadt die DDR im Zug nach Westen und landet handballerisch in Ostwestfalen beim damaligen Bundesligisten GWD Minden, wo er von Oktober 1989 bis Februar 1991 als Trainer fungiert und sich selbst zwischendurch sogar noch mehrmals als Spieler einwechselt.
Die weiteren Stationen als Trainer sind dann unter anderem TV Sachsenross Hille (dem Stammverein von Weltmeister Jimmy Waltke), TSV Barsinghausen und HF Springe in Niedersachsen und nochmals GWD Minden, bevor es danach zum RTV 1879 Basel, TV Möhlin und zum HV Herzogenbuchsee in die Schweiz geht. Seine vorläufig letzte Station als Trainer war dann Mitte der 2010er Jahre der TSV Rudow 1988 im Süden Berlins. Sein Heimatverein SC Empor Rostock hat ihren einstigen Star Wolfgang Böhme inzwischen rehabilitiert und ihm die Ehrenmitgliedschaft verliehen.
Die Kontakte nach Ostwestfalen hält der Jubilar Böhme allein schon familiär regelmäßig aufrecht: Zwillingsbruder Matthias, der Wolfgang bis heute zum Verwechseln ähnlichsieht, lebt mit seiner Familie seit vielen Jahren in der Widukind-Stadt Enger im Kreis Herford: Handball-Deutschland gratuliert den beiden „Böhme-Brothers“ sehr herzlich zu ihrem 75. Geburtstag!
(Prof. Dr. Detlef Kuhlmann)